Das nunmehr «Deutschlandticket» genannte Projekt soll möglichst schnell realisiert werden, angestrebt wird von der Politik ein Start im Januar 2023, was aber aus Umsetzungsgründen noch fraglich ist. So geht der baden-württembergische Verkehrsminister Winfried Hermann geht eher von einem Start im März oder April aus. Auch der VDV baut hier vor und macht auf die enge Zeitschiene aufmerksam: "Verkehrsunternehmen und -verbünde werden alles daransetzen, diesen Beschluss so schnell wie möglich umzusetzen, allerdings ist klar, dass der 1. Januar nicht zu halten sein wird, da entscheidende Fragen unbeantwortet geblieben sind. Diese offenen Punkte führen auch dazu, dass das Ticket zunächst nicht überall in digitaler Form kommen kann." Der Hamburger HVV startet aufgrund seiner erfolgten digitalen Vorbereitungen schon jetzt als erster Verkehrsverbund den Vorverkauf des Tickets, was HVV Chefin Anna-Theresa Korbutt in einem langen SPIEGEL Interview als "ein Stück weit Zufall" beschreibt. Bis zum Wochenende seien bereits rund 700 Tickets vorbestellt worden. Korbutt sieht für ihre Stadt ein Potenzial von zusätzlichen 200.000 bis 400.000 Tickets zu den bisherigen 680.000 Abonnements. "Und selbst wenn von unserer Prognose nur ein kleiner Teil gleich im Januar bucht, ist das für uns plötzlich eine riesige Bugwelle, auf die wir die Systeme ausrichten müssen," so erläutert die HVV Geschäftsführerin. "Aber das ist Okay. Wenn der Kunde kommt, wir nehmen ihn gern."

Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) sagte allen Bedenken zum Trotz: «Jetzt ist der Weg frei für die größte ÖPNV-Tarifreform in Deutschland.» Eine Einbindung des Fernbusses, wie sie Flixbus und der bdo sie gefordert hatten, ist vorerst nicht vorgesehen bzw. noch ungeklärt. Patrick Kurth, ehemaliger FDP-Abgeordneter des Bundestages und Cheflobbyist von Flixbus sagte auf dem Karrierenetzwerk LinkedIn dazu: „Die Integration (des Fernbusses) löst politische und rechtliche Probleme, die sonst durch staatliche Markteingriffe und Wettbewerbsverzerrungen entstehen sowie beihilferechtliche Einschränkungen erzeugen. Da kann die Bundesregierung nicht einfach Europarecht brechen - und wird die Ampel sicher auch nicht“.

Die Deutsche Bahn hat das von Bund und Ländern beschlossene Deutschlandticket dagegen erwartungsgemäß als wegweisend bewertet. «Das neue Deutschlandticket ist eine Flatrate für den Regionalverkehr», sagte Vorstandsmitglied Evelyn Palla am Donnerstag der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. «Damit revolutionieren wir die Art, wie sich die Menschen in Deutschland im Alltag fortbewegen: Reisende können bundesweit in jeden beliebigen Regionalzug oder Linienbus einsteigen - ohne sich Gedanken über Tarif- oder Ländergrenzen zu machen. Das Ticket ist damit ein starkes Argument, vom Auto auf klimafreundliche Verkehrsmittel umzusteigen.» 

 

Länder haben „Kröten geschluckt“

Das digitale und deutschlandweit gültige Deutschlandticket ist für einen „Einführungspreis“ von 49 Euro pro Monat in einem monatlich kündbaren Abonnement vorgesehen, wie es im Beschluss von Bund und Ländern heißt. Ab dem zweiten Jahr könnte das Ticket teurer werden. Geplant ist eine «Dynamisierung» in Form eines automatischen Inflationsausgleichs wegen der rasant gestiegenen Kosten auch im ÖPNV. Auch eine von Parteien wie DIE LINKE geforderte Sozialvariante für 29 Euro soll es definitiv nicht geben. Trotzdem werde die Attraktivität des ÖPNV deutlich erhöht, wie die Parteien nach der Bund-Länder-Einigung zu Protokoll gaben. Das helfe auch, Klimaziele zu erreichen. «Gleichzeitig wird das Deutschlandticket dazu beitragen, die Bürgerinnen und Bürger finanziell zu entlasten.» Gegenüber dem bisherigen Gesamtnetzticket für Hamburg beispielsweise sinke der Monatspreis um 77 Prozent, sagte der Hamburger Verkehrssenator Anjes Tjarks von den Grünen. So würden die Menschen in diesen schwierigen Zeiten deutlich entlastet. «Das Signal ist: Während die Energiekosten überall und auch im Verkehr deutlich steigen, wird Bus und Bahnfahren deutlich günstiger. Das hilft dem Portemonnaie, dem Klima und der Mobilitätswende.»

Das neue Ticket kostet zum Start drei Milliarden Euro, Bund und Länder finanzieren das jeweils zur Hälfte. Der Bund erhöht zugleich die sogenannten Regionalisierungsmittel, mit denen die Länder Bahn- und Busverbindungen bei den Verkehrsunternehmen bestellen. Die Länder hatten dies zur Bedingung dafür gemacht, dass sie das 49-Euro-Ticket mitfinanzieren, sie wurden allerdings nicht vollständig „abgeholt“ mit ihren Forderungen, die sich insgesamt auf rund 6,5 Mrd. Euro beliefen. Der hessische Ministerpräsident Boris Rhein sprach im Hessischen Rundfunk dementsprechend zwar von einem „Durchschlagen des gordischen Knotens“, die Länder hätten aber auch „einige Kröten schlucken müssen.“ Sein Wirtschafts-und Verkehrsminister Tarek Al Wazir von den Grünen hob auf dem Hesssichen Mobilitätskongress den Vorbildcharakter des hesssischen Schülertickets hervor: „In Hessen haben wir mit dem Schülerticket 2017 das Prinzip des über Tarif-, Stadt- und Kreisgrenzen hinaus gültigen Flatratetickets erstmals in Deutschland eingeführt. Wir haben gute Erfahrungen mit solchen Angeboten gemacht und sie Zug um Zug mit dem Landes- und dem Seniorenticket ausgeweitet. Dabei haben wir von Anfang an auf unser langfristiges Ziel eines günstigen, überall gültigen Tickets für jeden und jede hingearbeitet. Mit dem Deutschland-Ticket ist es jetzt erreicht, sogar mit noch größerem Geltungsbereich.

 

Massive Kritik von den Verbänden wegen fehlender Nachschusspflicht

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer hat sich nach der Einigung jedoch unzufrieden gezeigt. Einerseits reichten die Regionalisierungsmittel des Bundes, mit deren Hilfe die Länder Bahn- und Busverbindungen bei den Verkehrsunternehmen bestellen, nicht aus. «Auf der anderen Seite will der Bund mit dem 49-Euro-Ticket jetzt ein neues Angebot schaffen», sagte der CDU-Politiker am Mittwoch nach Beratungen der Ministerpräsidenten der Länder mit Kanzler Olaf Scholz (SPD) in Berlin. «Da ist die Frage, was kommt zuerst und macht man hier nicht im Zweifel den dritten Schritt vor dem ersten.»

Im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) sorgten enorme Kostensteigerungen etwa bei der Energie dafür, «dass das Geld nicht reicht», so Kretschmer. Strecken würden ausgedünnt oder stillgelegt. «Dieses Geld muss erst mal auf den Tisch». Einen Teil habe der Bund zugesagt, das reiche aber nicht aus. «Der Bundesregierung war das 49-Euro-Ticket, dieses Symbol, noch wichtiger, da ist jetzt Geld vorhanden. Ich finde, das ist die falsche Reihenfolge.» Aber man müsse nun damit umgehen. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst sagte: «Der Preis wird steigen.» Es solle vermieden werden, dass wegen steigender Kosten Bestandsverkehre abbestellt und Linien ausgedünnt werden müssten. «Das beste Ticket hilft am Ende nicht, wenn der Bus nicht mehr kommt.» Diese Aussage haben sich in den letzten Wochen fast alle hochrangigen Politiker zu eigen gemacht.

Der Bundesverband der Omnibusunternehmen (bdo) äußerte sich ebenfalls kritisch zur Finanzierung. In einer ersten Mitteilung heisst es: "Aus Sicht der Busbranche sind die beschlossenen Hilfsmaßnahmen unzureichend. Die Regionalisierungsmittel wurden zwar erhöht, aber Mittel zum Ausgleich der gestiegenen Energiekosten wurden nicht auf den Weg gebracht. Und auch beim Nachfolger für das 9-Euro-Ticket, dem Deutschlandticket, werden die bereitgestellten Mittel voraussichtlich nicht für eine auskömmliche Finanzierung reichen." Zudem sei keine „Nachschusspflicht“ vereinbart worden, dass mehr Mittel bei höheren Kosten zur Verfügung gestellt werden. "Ebenfalls sind die Zuschüsse nicht dynamisiert. Erst Ende 2024 wollen Bund und Länder über die weitere Entwicklung von Regionalisierungsmitteln und Deutschlandticket sprechen. Damit bleibt der Beschluss weit hinter dem zurück was von bdo, VDV aber auch anderen Verbänden der Verkehrsbranche gefordert wurde," so der bdo weiter. "Denn klar ist: Die Busunternehmen werden nur beim Deutschlandticket mitmachen, wenn garantiert ist, dass sie dadurch keine finanziellen Nachteile haben. Auf das Thema Eigenwirtschaftlichkeit wird die Einführung des Deutschlandtickets keine unmittelbaren Auswirkungen haben. Um den Ausgleich für das Deutschlandticket beihilfekonform an die Unternehmen auszuschütten, muss daher sichergestellt en werden, dass flächendeckend allgemeine Vorschriften von allen Aufgabenträgern erlassen werden." Bus Blickpunkt hatte dieses Thema ebenfalls kritisch im Bus(ch)funk im Oktober-Heft beleuchtet ("Droht das Ende der Eigenwirtschaftlichkeit?").

Auch der Verband deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) stimmt heute Mittag in die Finanzkritik ein: "Das Risiko eines höheren Verlustes sowie die erforderlichen Anlaufinvestitionen sind ins unternehmerische Risiko der Unternehmen verschoben, das geht nicht. Völlig unberücksichtigt geblieben sind auch die pandemiebedingten Verluste und die hohen Anlaufverluste. Auch die monatliche Kündbarkeit führt zu erheblichen Einnahmenrisiken, die den Kompensationsbedarf erhöhen," lässt sich Hauptgeschäftsführer Oliver Wolff zitieren. "Damit fehlen dem Beschluss zwei wesentliche Parameter! Einerseits die Übernahme der Nachschusspflicht und andererseits die Dynamisierung nach zwei Jahren, wie sie die Verkehrsministerkonferenz noch vor Kurzem einstimmig beschlossen hatte. Den Unternehmen kann nicht aufgebürdet werden, das von Bund und Ländern beschlossene Ticket umzusetzen und dabei das eigene Unternehmen in eine massive Schieflage zu bringen. Auch aus kommunaler Sicht ist der Beschluss nicht ausreichend, da auch die städtischen Haushalte keinen Risikoausgleich finanzieren können. Insofern muss umgehend verhandelt werden – im Sinne der hälftigen Finanzierung der tatsächlichen Kosten durch Bund und Länder.“

 

Zusätzliche Regionalisierungsmittel schon ab 2022

Der Bund stellt laut Beschluss schon ab 2022 zusätzliche Regionalisierungsmittel in Höhe von einer Milliarde Euro jährlich zur Verfügung, mit denen die Länder den regionalen ÖPNV finanzieren. Zudem sollen diese jährlich um drei Prozent erhöht werden, statt wie bisher nur um 1,8 Prozent. "Diese Summe liegt deutlich unter den bislang von den Ländern geforderten 1,5 Milliarden Euro," kommentiert der bdo hierzu, der VDV nennt diese Erhöhung schon für das laufende Jahr trotzdem einen "Meilenstein". Aus Sicht des Bundes sollten auch die Länder ihre jährlichen Beiträge in entsprechender Höhe steigern. Über die weitere Entwicklung der Regionalisierungsmittel und des Deutschlandtickets für die Zeit ab 2025 wollen Bund und Länder Ende 2024 im Rahmen einer Evaluation über eventuelle Preisanpassungen sprechen. Die Länder hatten eine deutlichere Erhöhung der Mittel gefordert, die damit jedoch vom Bund „einfach abtropfen gelassen wurden“, wie es der Berliner Tagesspiegel ausdrückte. „Die enormen Kostensteigerungen dürften dazu führen, dass 2023 und 2024 wieder ums Geld gestritten wird,“ so der Autor Caspar Schwietering. Dazu sagt der bdo: "Bund und Länder haben nahezu ausschließlich Hilfen für gestiegene Strom- und Gaskosten auf den Weg gebracht. Eine ausdrückliche Unterstützung für Diesel- oder Kraftstoffkosten findet sich nicht im Beschlusspapier."

Wissing sagte, Ziel sei ein Start des Deutschlandtickets zum Jahreswechsel. Es seien Vorarbeiten für das Ticket geleistet worden, aber noch Fragen zu beantworten. Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann bezweifelte aber, dass das 49-Euro-Ticket im Januar kommt. Der Grünen-Politiker sagte den Partnerzeitungen der Neuen Berliner Redaktionsgesellschaft (NBR), möglicherweise komme es erst am 1. März oder 1. April. Die Umsetzung sei aufwendig. Der Länderanteil in Höhe von 1,5 Milliarden Euro müsse in den Haushalten der Länder verankert werden. In der «Süddeutschen Zeitung» wies Hermann zudem darauf hin, dass Automaten umgestellt, Tarifsysteme angepasst und Gremienbeschlüsse gefasst werden müssten. Einsparungen im Ticketing und bei der Administration solle es laut VDV-Hauptgeschäftsführer keine geben, wie er in einer unlängst stattfindenden Pressekonferenz auf Bus Blickpunkt Nachfrage erläuterte. Der dpa sagte er später dazu: "Wir müssen unseren Kunden nach wie vor passende Tarife anbieten, auch unterhalb des Deutschlandtickets. Dafür brauchen wir die Verbünde. Man kann nicht alles rasieren. Daher wird man nicht viel Geld einsparen können mit einer Strukturreform.“

Führende Kommunalverbände sehen die Einigung auf ein 49-Euro-Ticket für Busse und Bahnen in Nah- und Regionalverkehr eher skeptisch. Auch der Sozialverband Deutschland ist unzufrieden mit dem 49-Euro-Ticket, allerdings wegen des Preises. Die Vorstandsvorsitzende Michaela Engelmeier sagte der Nachrichtenagentur dpa, nicht alle Menschen könnten sich dieses leisten.  

 

Dieser Beitrag wird fortlaufend aktualisiert. Letzte Aktualisierung am 5. November, 20:00 Uhr