Nach wochenlangem Streit und Warnungen vor einem Aus des Deutschlandtickets haben Bund und Länder gestern in der lange erwarteten Bund-Länder-Konferenz Schritte zu einer weiteren Finanzierung vereinbart. So sollen in diesem Jahr nicht verbrauchte Mittel 2024 zum Ausgleich finanzieller Nachteile durch das günstigere Ticket bei Verkehrsunternehmen eingesetzt werden können. Darauf verständigten sich Kanzler Olaf Scholz (SPD) und die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten am Montagabend in Berlin, wie die Deutsche Presse-Agentur aus Teilnehmerkreisen erfuhr. In den Blick rückt auch der Preis von bisher 49 Euro im Monat, der ausdrücklich als «Einführungspreis» gilt. Die Verkehrsminister sollen jetzt ein Konzept für die Umsetzung des Tickets 2024 erarbeiten.

Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) begrüßte die Verständigung von Bund und Ländern und bezeichnete das Ticket am Dienstag als großen Erfolg. Der Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz, Boris Rhein (CDU) aus Hessen, sagte schon vor der Runde mit Scholz, das Ticket für Busse und Bahnen im Nahverkehr in ganz Deutschland sei ein Erfolgsmodell. "Wir wollen es weiterführen." Er sehe das Ticket mit den jüngsten Bund-Länder-Beschlüssen jetzt gesichert: "Es gibt überhaupt keinen Grund mehr, Finanzdebatten zu führen oder den Fortbestand dieses Tickets in Frage zu stellen», sagte der FDP-Politiker gegenüber dpa.

Der Bund-Länder-Beschluss zeige, dass die von den Ländern losgetretene Debatte über die Finanzierung vollkommen überflüssig gewesen sei. "Außer einer Verunsicherung der Verbraucher haben sie damit nichts erreicht." Wissing rief alle dazu auf, nun "konstruktiv mitzuarbeiten".

VDV-Präsident Ingo Wortmann sagt zur nächtlichen Einigung: „Die nun für 2024 zusätzlich zur Verfügung stehenden Mittel sind ein gutes Signal und ein wichtiger Schritt für den kurzfristigen Fortbestand des Deutschland-Tickets. Allerdings ist die Finanzierungsfrage damit nicht abschließend und vollständig beantwortet. Denn nach unserer Prognose werden diese Mittel nicht für das ganze Jahr 2024 ausreichen, es fehlen noch mindestens 400 Millionen Euro. Mit diesem Beschluss geht die Debatte um die Zukunft des Tickets also in die Verlängerung. Von zentraler Bedeutung ist nun, wie das beschlossene Konzept zur weiteren Ausgestaltung des Deutschland-Tickets konkret aussehen wird, um das Ticket dauerhaft zum Erfolg zu machen. Wir verstehen dies auch als Auftrag an die Branche, hierzu geeignete Vorschläge einzubringen. Zudem weisen wir nochmals darauf hin, dass es neben den jetzt nötigen fachlichen Abstimmungen aller Beteiligten zum Deutschland-Ticket auch schnelle politische Vereinbarungen für den Ausbau und für die Modernisierung des deutschen ÖPNV braucht.“

Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann hat den Beschluss der Bund-Länder-Runde zur Zukunft des Deutschlandtickets auf der Plattform X und anderen Medien scharf kritisiert. "Dieser Beschluss zum Deutschlandticket ist ein Nicht-Beschluss: Nichts ist gelöst", sagte der Grünen-Politiker, Deutschlands längstgedienter Landesverkehrsminister. Die Vereinbarung helfe bei der Lösung der strittigen Finanzierungsfrage nicht weiter, sondern spiele den Ball an die Verkehrsministerinnen und Verkehrsminister der Länder zurück, sagte Hermann. Diese könnten aber keinen Finanzbeschluss selbst fassen, das müsse eine weitere Ministerpräsidentenkonferenz mit dem Bundeskanzler machen. "Der Bund hat eine schöne Ticket-Idee in die Welt gesetzt, weigert sich aber, dafür Finanzierungsverantwortung zu übernehmen", kritisierte Hermann.

Auch der Bundesverband Deutscher Busunternehmen bdo äußert sich kritisch. Im wöchentlichen Newsletter "Weekly Update" sagt Hauptgeschäftsführerin Christiane Leonard: "Wir sind also kein Stück weiter und die finanziellen Risiken dieses, von Bund und Ländern so gelobten „Prestigeprojektes“, werden immer weiter auf die Unternehmen verlagert. Das zeugt nicht von Verlässlichkeit und ist auch nicht fair. Vertrauen wird verspielt. Ohne Verlässlichkeit und Vertrauen in die Bundesregierung wird dieses Projekt jedoch scheitern. Nun liegt der Ball wieder bei der Verkehrsministerkonferenz. War er da nicht erst kürzlich und ohne Ergebnis?"

 

Operation „Mittel-Umschichtung“

Nach einer Verabredung von Ende 2022 schießen beide Seiten in diesem und im nächsten Jahr schon je 1,5 Milliarden Euro zum Ausgleich von Einnahmeausfällen bei Bus- und Bahnbetreibern zu. Doch Knackpunkt waren zuletzt etwaige Mehrkosten darüber hinaus. Dass Bund und Länder sie ebenfalls je zur Hälfte tragen, ist nur für das Einführungsjahr 2023 vereinbart. Verkehrsbranche und Länder forderten das lange auch für 2024. Davon war nun keine Rede mehr. Als Puffer soll ungenutztes Geld von 2023 dienen können, wozu eine Gesetzesänderung nötig ist. Mit dem angepeilten Konzept der Verkehrsminister soll «eine weitere Nachschusspflicht durch Bund und Länder» 2024 ausgeschlossen werden. Der VDV sagt dazu in einem ersten Statement: "Die Ministerpräsidenten und Bundeskanzler beschließen Übertrag der Restmittel aufs nächste Jahr, aber keine Nachschusspflicht. Das sichert den Fortbestand des Deutschland-Tickets kurzfristig."

 

Genaue Zwischenabrechnung für 2023/24

Welche Mehrkosten es wirklich gibt, lässt sich noch nicht beziffern. Bund und Länder peilen daher eine genaue „Spitzabrechnung“ für 2023 und 2024 an, die nach Vorliegen endgültiger Daten für beide Jahre von den Ländern gemacht werden soll. Laut einer Prognose des Verbands der Verkehrsunternehmen dürften die Verluste für die Branche dieses Jahr 2,3 Milliarden Euro betragen, nachdem das Ticket erst Anfang Mai startete. Im vollen Jahr 2024 sollen es dann 4,1 Milliarden Euro sein. Bei sechs Milliarden Euro Zuschüssen für 2023 und 2024 könnte sich unter dem Strich also eine Lücke von 400 bis 600 oder 700 Millionen Euro ergeben, alle drei Summen sind derzeit im Gespräch.

Etwas mehr ungefilterten Einblick in die kommunikativen Befindlichkeiten zwischen Bund und VDV gibt der neue VDV Geschäftsführer Bus, Alexander Möller, auf dem Karrierenetzwerk LinkedIn: "Es bleibt ein Risiko wegen der prognostizierten Finanzierungslücke in 2024. Wenn der Bund die Prognosen der Branche nicht glaubt - was ok ist; noch besser wäre, der Bund würde seine Prognosen transparent teilen, wenn er welche hat - und für zu negativ hält, dann könnte er sagen: Nachschussverpflichtung nehmen wir auch 2024 an. Die Finanzierung im Laufe von 2024 („für 2025 am Ende von 2024“) für die weitere Zeit zu klären, ist hinsichtlich Investitionen und Kosten zu spät. Rechtslage ist außerdem, 2026 steigt der Bund aus der Co-Finanzierung aus."

 

Der Ball für das Finanzkonzept liegt wieder bei den Ländern

Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) sagte vor der Beratung mit Scholz, die Übertragung nicht verbrauchter Mittel von 2023 schaffe die Grundlage, dass das Ticket auch im nächsten Jahr weitergehen könne. „Ob und in welcher Form das Auswirkungen auf die Preisgestaltung haben wird, das müssen uns die Verkehrsminister sagen.“ Insofern werde der Ball da an die Fachminister elegant zurückgespielt. Bund und Länder beauftragen die Verkehrsministerkonferenz wiederum, ein Konzept vorzulegen - und zwar rechtzeitig vor dem 1. Mai 2024. Dann wird das Ticket ein Jahr alt. Dafür sollen sich Bund und Länder über die weitere Finanzierung und einen Mechanismus zur Fortschreibung des Ticketpreises verständigen, „der auch eine Erhöhung beinhalten kann“. Mit dem künftigen Finanzierungs-Konzept soll eine weitere "Nachschusspflicht" für Bund und Länder nun endgültig vom Tisch sein.

Der VDV sagt zu dieser Beauftragung der Verkehrsminister:  „Der VDV bietet als Branchenverband hierzu seine Mitarbeit an. Wir gehen davon aus, dass dieses zu erarbeitende Konzept nicht nur von hoher Sachlichkeit und Fachlichkeit getragen sein wird, sondern, dass sich auch alle Beteiligten dann an die Vereinbarungen in diesem Konzept halten werden. Zudem liegt bislang keine Tarifgenehmigung vor, die für den Verkauf des Tickets ab Januar zwingend erforderlich ist. Auch hierzu macht der VDV unverzüglich einen Vorschlag. In einem zukunftsfähigen Konzept für das Deutschland-Ticket dürfen Lösungen für Studierende und das Jobticket nicht fehlen. Viel zu lange konnten mit dem Bund hierzu keine Regelungen getroffen werden“, so VDV-Hauptgeschäftsführer Oliver Wolff.

Der Vorsitzende der Länderverkehrsminister, Oliver Krischer (Grüne) aus Nordrhein-Westfalen, sagte, man werde dem Auftrag nachkommen und ein Konzept für ein langfristig gesichertes Ticket entwickeln. Der nun festgelegte Finanzrahmen schränke aber vieles ein und könnte dazu führen, dass der Einführungspreis ab Mai 2024 nicht mehr zu halten sein werde. Zumindest im ersten Jahr nach der Einführung, also noch bis Ende April 2024, werde es keine Preiserhöhung geben, stellte der niedersächsische Ressortchef Olaf Lies (SPD) aber in Aussicht.

 

Die heikle Preis-Frage

Dass der verlockende Start-Preis von 49 Euro irgendwann einmal – wie andere Tarife auch – steigen kann, war prinzipiell immer klar. Doch nun kommt eine mögliche Anhebung als Finanzierungselement schon für 2024 konkret auf den Tisch. Die Umweltorganisation Greenpeace kritisierte prompt, Scholz wolle sich mit dem D-Ticket als eines der wenigen gelungenen Ampel-Projekte schmücken, dafür zahlen wolle er aber nicht. Das könne nicht funktionieren. „Wenn die Kundinnen und Kunden jederzeit mit einer Preiserhöhung rechnen, dann würgt das den Erfolg des Tickets ab, noch bevor es überhaupt richtig angekommen ist", sagte Greenpeace-Expertin Clara Thompson. Bund und Länder betonten, das Ticket weiterentwickeln, vereinfachen und digitaler machen zu wollen. Und Ziel sei auch, „mit einer erfolgreichen Umsteigeoffensive mögliche Finanzierungsdefizite soweit wie möglich zu senken“.

In der Koalition machten sich die Grünen für einen stabilen Preis stark. Die Inflation mache das Leben für viele teuer. «Deshalb ist es wichtig, dass das Deutschlandticket ein 49-Euro-Ticket bleibt», sagte Fraktionschefin Katharina Dröge. SPD-Fraktionsvize Detlef Müller sagte, die Verkehrsminister von Bund und Ländern müssten schnell
Planbarkeit bei Anbietern und Abonnenten schaffen.
 
Aus Sicht eines Verkehrsexperten hätte eine Preiserhöhung auch Auswirkungen auf die Nachfrage nach dem Ticket. «Nach unseren Berechnungen nutzen rund zehn Millionen Menschen derzeit das Deutschlandticket. Sollte der Preis auf 59 Euro steigen, blieben vielleicht noch sechs bis sieben Millionen», sagte Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin der Deutschen Presse-Agentur. «Das Ticket müsste eigentlich 29 Euro kosten, dann hätte man viel mehr Menschen in den Zügen.» Von den aktuellen politischen Entwicklungen sei er «bestürzt». Wissenschaftler Knie kritisierte, dass das Ticket bereits jetzt ein Fahrschein für Menschen mit höherem Einkommen sei. Er geht davon aus, dass lediglich 400 000 bis 500 000 Menschen, die vorher gar kein ÖPNV-Ticket hatten, mit dem Deutschlandticket nun Busse und Bahnen nutzen. Vor allem Menschen, die in den Speckgürteln großer Städte wohnen und vor dem Deutschlandticket teils dreistellige Beträge für einen Monatsfahrschein zur Arbeit ausgeben mussten, profitierten vom 49-Euro-Angebot.
 

Wissing lobt Deutschlandticket – andere nicht

Bundesverkehrsminister Wissing rief die Landesverkehrsminister auf, „sachlich am Erfolg des Deutschlandtickets zu arbeiten und aufzuhören, es ohne Not in Frage zu stellen“. Der Beschluss bekräftige noch einmal das im vergangenen Jahr vereinbarte Finanzkonzept und zeige, dass die von den Ländern losgetretene Debatte über die Finanzierung des Deutschlandtickets „vollkommen überflüssig“ gewesen sei. Er bezeichnete das Deutschlandticket als großen Erfolg. Die Länder sollten diese Chance erkennen und alles dafür tun, damit die Abo-Zahlen weiter steigen. „Die nächsten Schritte dafür sind mehr Digitalisierung des ÖPNV-Angebots, der Verzicht auf Konkurrenzprodukte und eine konsequente Vereinfachung der Strukturen.“

Dass der Streit weiter andauern könnte, zeigte indes nicht nur die Reaktion des Leipziger Oberbürgermeisters Burkhard Jung (SPD). Er nannte im Deutschlandfunk den Beschluss zum Deutschlandticket eine „Lachnummer“, wie die FAZ berichtete.

Auch bei Hannovers Regionspräsident Steffen Krach stößt die neuerliche "Einigung" auf Unverständnis. Das Ergebnis der Beratungen von Bund und Ländern zu diesem Thema sei "eine sehr schlechte Lösung", teilte der SPD-Politiker am Dienstag mit. Weder für Pendlerinnen und Pendler noch für Verkehrsverbünde und Kommunen gebe es dadurch Planungssicherheit. "Eine vertane Chance & verantwortungslos, wenn man es ernst meint mit Klimaschutz und Verkehrswende", schrieb Krach.

Dirk Flege, Geschäftsführer der Lobbyorganisation "Allianz pro Schiene" zeigt sich ebenfalls skeptisch auf der Plattform X (ehemals Twitter): "Gut, dass es mit dem Deutschlandticket weitergeht. Schlecht, dass zentrale Fragen offen bleiben. Bund und Länder müssen eine "Pari-Pari-Lösung" finden. Zum Jahresbeginn brauchen wir von Bund und Ländern dringend ein Gesamtpaket mit: Langfristiger Finanzierung des Deutschlandtickets, bundesweitem Sozialticket sowie Angebotsausweitung des ÖPNV."

Und Nyke Slawik, für Bündnis90/Grüne im Verkehrsausschuss, "twittert": "Damit es dauerhaft (über die nächsten Monate hinaus) bei einem 49EuroTicket bleibt (statt 59 oder 69 Euro) und es auch ein Deutschlandangebot beim ÖPNV gibt, also einen echten Ausbau von Bus- & Bahnangebot, braucht es einen neuen ÖPNV Finanzierungspakt zwischen Bund & Ländern. Wir werden weiter kämpfen für ÖPNV-Ausbau und Verbesserungen des D-Tickets, wie bspw. das deutschlandweite Semesterticket und für die Kindermitnahme auf dem Deutschlandticket."

Der Deutsche Tourismusverband bedauert wiederum, dass es nach der Gesprächsrunde zwischen Bund und Ländern weiterhin viele offene Fragen zum Deutschlandticket gibt. Unerlässlich sei es, nun über die Eckpunkte für einen langfristigen Erfolg des Deutschlandtickets zu beraten, sagt Norbert Kunz, Geschäftsführer des Verbandes. „Unbedingt müssen wir darüber sprechen, wie die Versorgungsunterschiede zwischen Metropolen und dem ländlichen Raum ausgeglichen werden können und wie die Investitionen der kommenden Jahre ins System aussehen, damit der ÖPNV mit mehr Verbindungen, besserer Technik und mehr Service punkten kann“, sagt der Geschäftsführer des Deutschen Tourismusverbandes (DTV). „Das Ticket bietet die Chance, ein entscheidender Faktor bei der Verkehrswende zu sein. Nutzen wir sie doch.“

Und Ramona Pop, Vorständin der Verbraucherzentrale Bundesverband e.V. (vzbv), bringt es auf den Punkt: "Das Gezerre um die Finanzierung des Deutschlandtickets geht in die nächste Runde."

 

Dieser Artikel wird ständig aktualisiert. Letzte Aktualisierung am 10. November um 16:40 Uhr.