Kürzlich beschwerte sich eine Mitarbeiterin bei ihrem Chef darüber, dass sie von einem Kollegen belästigt werde. Während sich der Kollege früher nur anzüglich benahm, hätte er ihr nun ins Oberteil gegriffen. Der Kollege bestreitet die Vorwürfe. Hier steht nun Aussage gegen Aussage.Wie kann und wie sollte der Chef reagieren?

 

In dubio pro reo („Im Zweifel für den Angeklagten“) – dieser Grundsatz gilt nur im Strafrecht. Im Arbeitsrecht ist es hingegen so, dass derjenige, der für sich ein Recht in Anspruch nimmt, dessen Voraussetzungen zu beweisen hat.
Mahnt der Arbeitgeber den beschuldigten Mitarbeiter ab oder entlässt er ihn sogar, so muss er im Streitfall konkret darlegen, dass der Arbeitnehmer die Verfehlung tatsächlich begangen hat. In dem Zusammenhang kommt der Aussage der Mitarbeiterin Bedeutung zu, weil es sich hierbei um eine Zeugenaussage handelt. Die eigentliche Frage ist also, ob die Aussage der Kollegin so glaubhaft ist, dass sich ein Gericht hiervon überzeugen lässt. Die gleiche Überlegung hat auch der Arbeitgeber anzustellen. Auch er muss entscheiden, ob der Aussage der Mitarbeiterin Glauben zu schenken ist. Je glaubwürdiger sie den Vorfall beschreibt, desto wahrscheinlicher ist es, dass an der Sache etwas dran ist. Hat die Kollegin – überspitzt ausgedrückt – jede Woche etwas anderes zu berichten, sind wohl weitere Erkundigungen notwendig. Ist der Arbeitgeber überzeugt, dass sich der Vorfall so wie geschildert zugetragen hat, muss er reagieren. Hierauf hat das potenzielle Opfer nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) einen Anspruch.
In der Wahl der Maßnahme ist der Arbeitgeber nach dem AGG keineswegs frei. Zwar ist der Katalog von Maßnahmen (Abmahnung, Umsetzung, Versetzung, Kündigung) nicht abschließend, die ergriffene Maßnahme muss aber jeweils im Einzelfall geeignet, erforderlich und angemessen sein. Streitpunkt ist in aller Regel die Angemessenheit. Das einmalige Anfassen der Brust einer Kollegin rechtfertigt bei einer im Übrigen schon länger andauernden, unbelasteten Be-triebszugehörigkeit nicht unbedingt die Kündigung.
Im vorliegenden Fall haben sich die angeblichen Belästigungen zwar über einen längeren Zeitraum erstreckt, allerdings hat die Kollegin den Vorfall erst jetzt gemeldet. Natürlich verbieten sich hieraus Rückschlüsse. Insbesondere kann nicht angenommen werden, die Kollegin wäre mit dem anzüglichen Verhalten einverstanden gewesen. Gleichwohl ist der zeitliche Aspekt im Rahmen der Angemessenheit zu berücksichtigen. Im Ergebnis wird deshalb wohl lediglich eine Abmahnung auszusprechen sein.