Nichts geht mehr. Der gesamten Tourismusbranche wurde von jetzt auf gleich die Geschäftsgrundlage entzogen. Vor diesem Hintergrund wollten wir von Ulrich Reinhardt, Leiter der Stiftung für Zukunftsfragen, wissen, wie es um die Zukunft des Tourismus/Gruppentourismus bestellt ist.

Herr Reinhardt, wie verfolgen Sie als Wissenschaftlicher Leiter der Stiftung für Zukunftsfragen den aktuellen Stillstand in der Tourismusbranche?
Die Situation ist für die Tourismusbranche, ebenso wie für viele weitere Wirtschaftszweige, zweifellos schwierig. Wann wieder verreist werden darf, kann derzeit niemand seriös beantworten und die gesamte Branche steht vor unsicheren und schwierigen Monaten.

Welche Auswirkungen könnte Ihrer Meinung nach der Lockdown und die anhaltende Isolation auf das künftige Reiseverhalten der Menschen haben?
Urlaub war, ist und bleibt das Highlight des Jahres. Es wird geplant, gespart und sich darauf gefreut, die besten Wochen des Jahres zu verreisen, sich zu erholen und etwas Besonderes zu erleben. Wenn das nicht möglich ist, schmerzt dieses zweifellos. Positiv ist dabei jedoch die Tatsache, dass gerade die Bundesbürger ein chronisches Kurzzeitgedächtnis haben. So zeigten sie sich in und nach jeder Krise durchaus krisenbewusst, hielten aber eben auch nichts von Panikmache und stellten nie das Reisen grundsätzlich infrage. Ob Öl-Energiekrise in den 1970er Jahren, Tschernobyl ‘86, der Golfkrieg in den 90er Jahren, der 11. September 2001, Terroranschläge, Naturkatastrophen oder Wirtschaftskrisen – nie haben die Bürger dauerhaft auf das Reisen verzichtet.

Wird sich die Tourismusbranche generell und im Speziellen die Bus- und Gruppentouristik angesichts der Pandemie und ihrer Folgen verändern? Wie wird diese Veränderung aussehen?
In den vergangenen Wochen und Monaten hatte die Corona-Krise neben unzähligen Auswirkungen auch positive Effekte zu verzeichnen. Unter anderem in puncto Umwelt wird dabei deutlich – einige Regionen, welche über viele Jahre hinweg unter den Folgen des Tourismus litten, erholten sich in den vergangenen Wochen wieder stückweise. Diesen erfreulichen Nebeneffekt gilt es auch nach Abklingen der Pandemie zu erhalten. Jede Krise ist ja auch eine Chance auf Verbesserung und die Tourismusbranche hat große Potentiale an dieser Entwicklung mitzuhelfen. Die Bustouristik kann hierzu einen Beitrag leisten und mit Innovationen, Serviceorientierung und durchdachten Konzepten Stammgäste glücklich machen und neue Zielgruppen erschließen. Gerade solange keine Flugreisen möglich sind, ist dieses eine wahrscheinlich einmalige Chance.

Wie schätzen Sie die Lage ein, wie wird der Tourismus in Zukunft aussehen?
Die Sicherheit wird weiter die oberste Priorität genießen. Allerdings muss diese neu definiert werden, denn nicht mehr nur die Sicherheit vor Terroranschlägen und Kriminalität wird vorausgesetzt, sondern eben auch die Gewissheit, um die eigene Gesundheit. Strenge Hygiene- und Abstandsregeln werden das Reisen noch für eine ganze Weile begleiten und den Tourismus stark prägen.

Was bedeutet das für den Bus- und Gruppentourismus?
Insbesondere an Orten, wo sich viele Menschen auf engstem Raum versammeln, sind neue Konzepte unumgänglich. So wird sich der Bustourismus, ebenso wie Flug- und Bahnanbieter auf umfangreiche Hygienemaßnahmen und Sicherheitsvorkehrungen vorbereiten müssen. Wie dieses im Detail aussehen wird, vermag ich nicht zu sagen, aber ein Angebot wie in der Vergangenheit wird wenig Erfolg haben.

Könnte der Gruppentourismus möglicherweise sogar gestärkt aus der Krise hervorgehen?
Nachdem wochen- und gar monatelang auf persönliche soziale Kontakte verzichtet werden musste, sehnen sich viele Bundesbürger danach, wieder etwas gemeinsam zu unternehmen und unterwegs zu sein. Dies spricht durchaus für einen Urlaub in Form einer Gruppen- oder Busreise. Erforderlich ist jetzt der Mut sich endlich zu trauen, neue Wege zu gehen. Die Weiterentwicklungen der Vergangenheit waren leider nicht sehr umfangreich, jetzt sollte die Branche agieren und weniger reagieren.

Tourismus in Deutschland nach der Corona-Krise: Wie wird dieser Ihrer Einschätzung nach weitergehen?
Nicht nur aufgrund der Reisebeschränkungen und aus gesundheitlichen Sorgen, sondern auch aus dem Grund, dass das Budget in diesem Jahr bei vielen Deutschen begrenzter ausfallen wird als in der Vergangenheit, werden nach Lockerung der Einschränkungen zunächst inländische Reiseziele Zuwächse verzeichnen können. Ganz gleich ob an Nord- und Ostsee, ob im Schwarzwald oder in Bayern – das werden sicherlich Gebiete sein, die als erstes wieder besucht werden.

Wie sie eingangs erläuterten, ist die Reisebranche krisenerprobt und hat auch schon vor Corona schwere Zeiten erlebt. In der Regel hat sie sich nach Katastrophen wieder schnell erholt. Wie wird es diesmal sein?
Grundsätzlich ist es immer so, dass der Tourismus circa sechs bis neun Monate braucht, um sich nach einer Krise zu erholen. So war es zumindest in der Vergangenheit – zunächst sank die Reisefrequenz, normalisierte sich jedoch nach einigen Monaten wieder. Diese Pandemie ist jedoch neu und einzigartig in ihrer Ausprägung. Erstens ist man derzeit nirgendwo sicher und könnte überall infiziert werden. Zweitens gibt es weltweit Reisewarnungen, Grenzen sind geschlossen und der Verkehr weitgehend eingestellt. Und drittens ist das Interesse zu verreisen derzeit nur bedingt vorhanden. Zunächst muss der Alltag wieder einkehren, bevor an den Urlaub gedacht wird.

Ist der Tourismus Ihrer Ansicht nach systemrelevant?
Sicherlich nimmt das Reisen einen bedeutenden Stellenwert im Leben vieler Bürger ein. Andere Sorgen, wie die Angst vor Ansteckungen, Krankheit und Tod, aber auch vor Kurzarbeit und Jobverlust, stehen jedoch derzeit für die meisten Bundesbürger im Vordergrund. Wirtschaftlich betrachtet ist der Tourismus zweifellos enorm wichtig. Rund drei Millionen Bürger, das ist jeder achte Beschäftigte, arbeiten in der Branche, Reisende geben alleine in Deutschland jährlich fast 290 Milliarden Euro für Güter und Dienstleistungen aus und mit einem Anteil von über zehn Prozent am BIP ist kaum etwas wichtiger als der Tourismussektor.

Wie lautet Ihre Prognose: Wann und wie werden wir wieder reisen können?
Wann wieder verreist werden darf, kann derzeit niemand seriös beantworten. Natürlich besteht die Hoffnung, dass es ab dem Sommer Lockerungen geben wird. Aber es könnte auch genau dann eine zweite Infektionswelle ausbrechen und zu neuen Einschränkungen kommen. Dann könnte die gesamte Urlaubssaison 2020 ausfallen.
Das Gespräch führte Askin Bulut