Die Nachricht nimmt sich in der 78 Seiten langen Pressemappe von Daimler Buses zur Busworld Europe in Brüssel eher nebensächlich und unscheinbar aus: „Sämtliche Omnibus-Baureihen von Mercedes-Benz und Setra, ob Stadt-, Überland- oder Reisebusse, sind künftig optional mit MirrorCam anstelle der bisherigen Außenspiegel zu bekommen,“ heißt es da lapidar. „Die Vorteile sind ein erweiterter Sichtbereich für den Fahrer durch die Scheiben und eine erheblich bessere Sicht nach hinten in der Dunkelheit durch Restlichtverstärkung. Die kleine Fläche der Kameralinse ist weniger anfällig für Verschmutzung. Im Vergleich zu konventionellen Spiegeln steht die MirrorCam kaum oder nur geringfügig über die Fahrzeugkanten hinaus. Das bedeutet einfacheres Rangieren und weniger Schäden. Schließlich wird die Stirnfläche des Omnibusses verkleinert – dies wirkt sich positiv auf den Kraftstoffverbrauch aus.“ Das alles ist nichts wirklich Neues, und technisch die Grundlage des Systems. Die eigentlichen Neuheiten des Systems werden erst bei näherem Hinsehen und Er-Fahren auf dem Sitz vorne links ganz deutlich. Wir hatten im Rahmen der „Busworld Vehicle Awards“ (deren Preise bei der Eröffnungsgala am Abend des 06. Oktober vergeben werden) die Gelegenheit, schon eine Woche vor der Messe eine Setra Top-Class mit dem neuen System zu bewegen. Auch Messebesucher sollen selbst mit dem neuen System fahren können, womöglich aber in einem anderen Fahrzeug.
Die Setra Top-Class S 516 HDH, die in Brüssel an den "Busworld Vehicle Awards" teilnahm. Foto: Wagner
Der erste Eindruck: Ui, so viele Monitore! Links an der A-Säule sind es drei übereinander, an der rechten A-Säule (im Stadtbus wird diese Position deutlich zur Mitte hin verlagert) sind es immer noch zwei. Die großen, neuen Monitore, die von Bosch statt von Wilke kommen, sind sehr gut dimensioniert und positioniert. Darüber finden sich die kleineren Monitore der Bugbeobachtungskameras, die erstmals im weit nach vorne reichenden Kameragehäuse verbaut sind, diese reichen allerdings nicht bis ganz vor das Fahrzeug wegen der starken Rundung der Front. Unterhalb des großen Monitors wiederum findet sich der seit einiger Zeit schon verfügbare Monitor des 360 Grad TopView-Systems, das über vier weitere Außenkameras eine Vogelperspektive des Busses errechnet und diese aufrecht in Fahrrichtung anzeigt. Rechts davon bleibt immer noch genug Platz um die relevanteste Kamera für das aktuelle Fahrmanöver anzuzeigen, beim Setzen des rechten Blinkers etwa die rechte Seite des Busses. Das Bild ist automatisch bis zu einer Geschwindigkeit von ca. 30 km/h oder beim Blinken zu sehen (sehr gut beim Einscheren auf der Autobahn!), aber auch jederzeit durch einen kurzen Tipp auf den gut erreichbaren Monitor wieder hervorzuzaubern. Der Clou: in Verbindung mit den beiden Bugbeobachtungskameras und deren Monitoren oberhalb des eigentlichen Rückspiegelmonitors, werden alle Spiegelbereiche aus den einschlägigen Richtlinien erfüllt, was bisher eine Herausforderung darstellte. Ein deutscher Wettbewerber löst dieses Dilemma zum Beispiel noch mit einem weit nach vorne reichenden, wuchtigen analogen Spiegel à la Truck an der rechten A-Säule.
Auf den ersten Blick erstaunt die Zahl der Monitore etwas. Foto: Wagner
Ein natürliches Bild wie vom iPhone 15
Nun aber zu den Highlights des neuen MirrorCam Systems, die sich erst in der eigenen Ansicht erschließen und nicht dem Pressetext zu entnehmen sind. Fangen wir dem wichtigsten an: dem Bild! Das mag zwar banal klingen, aber gerade in diesem Bereich, wo es um Sicherheit und Präzision geht, kann eine Abbildung des rückwärtigen Verkehrsraumes nicht gut genug sein! Und das neue Bosch-System macht seine Sache so gut, dass wir vom Stand weg begeistert sind! Nicht nur dass das Bild knackscharf ist, es verfügt auch über eine Farbtreue und -natürlichkeit, an die kein bisher getestetes System ansatzweise herankommt. Man könnte fast den Eindruck haben, ein neues Apple iPhone 15 Pro Max würde hier inklusive der Applikationen „True Tone“ und „Night Shift“ seinen Dienst verrichten. Zudem ist die Bildfolgerate derart hoch, dass kaum je ein Bildruckeln zu erkennen ist. Kurzum: Man meint mehr in ein Fenster zur echten Welt denn in ein digitales Abbild derselben zu blicken. Und das mit sehr entspannten Augen obendrein. Dazu trägt auch das bisher eher unübliche Vorgehen bei, mit nur einer Rück-Kamera zu arbeiten, die zwei Bilder aus der exakt identischen Perspektive liefert. Das untere Bild ist eine Art Weitwinkel, der allerdings in keiner Weise verzerrt ist, wie man es sonst gerne kennt. Darüber ist eine vergrößerte Darstellung zu sehen, die etwas hereingezoomt ist. Das Gehirn muss also nicht zwei völlig unterschiedliche Bilder verarbeiten und „übereinanderlegen“, was es deutlich entlasten dürfte.
Die beiden Bilder im großen Monitor sind exakt aus der gleichen Perspektive aufgenommen. Foto: Wagner
Abstandsmarkierungen im Monitor
Ein anderer Vorteil des Systems, der dem konzeptbedingten Nachteil der schlechteren Abschätzbarkeit von Abständen in einer 2D-Darstellung gegenüber der analogen „3D“-Darstellung ausgleichen soll, sind zwei Markierungslinien im Monitor, die das Ende des Busses mit einem grünen Balken kennzeichnen, und einen Bereich von 30 Metern dahinter mit einem orangenen Balken markiert, der für ein Einscheren auf der Autobahn optimiert ist, und dann hilfreich ist, wenn der Kunde auf das geniale 360 Grad-TopView verzichten sollte, und dessen Stärke genau dies sowie Kreisverkehre sind. Diese Art der Markierungen bieten noch immer nicht alle Zukaufsysteme an, hier ist der Fahrer mehr oder weniger auf's Raten angewiesen, wo genau das Ende des Busses wohl sein mag.
Und nun zum finalen Highlight, das zum Teil erklären könnte, warum Daimler mit seinem überragenden System erst so spät auf den Markt kommt – entgegen seiner sonstigen Usancen. Zum ersten Mal werden integrierte weitere Sicherheitssysteme wie der neue Side Guard Assist 2 oder auch die Ultraschall-Parksensoren im Heck direkt in den Monitor eingespielt und dort angezeigt. Zukaufsysteme, die die meisten anderen Hersteller verwenden, können das bis heute nicht. Und es ist ein echtes Markenkennzeichen, dass die Mannheimer und Neu-Ulmer Konstrukteure lieber auf ein eigens vollintegriertes System als auf ein Zukaufteil vertrauen. Und da ist es fast schon selbstverständlich, dass man die neue, ab Mitte 24 geltende „General Safety Regulation“ (GSR) der EU abwarten musste, die ja selbst die hochentwickelten Daimler-Systeme ja nochmal zu einem kleinen "Zwangs-Update" nötigte. Das Ergebnis kann man dann recht einfach so in Worte fassen: Spät – aber gewaltig!
Hier gut zu erkennen: die kleine vordere Kamera für die Bugbeobachtung. Foto: Wagner