Wenn der Gegner auf dem Rücken im Sägemehl liegt, die Arena jubelt und der 27-Jährige Matthias Sempach seinen mächtigen Arm mit geballter Faust in die Höhe reckt, dann nimmt eine Liedzeile aus „My fair Lady“ leibhaftige Gestalt an: Der Herrgott schuf den Männerarm wie Eisen, dass er im Schweiß schafft ohne Rast und Ruh... Matthias Sempach hat so einen Männerarm. Und seit dem 1. September 2013 darf er sich Schweizer Schwingerkönig nennen. Er ist ein König von einer Statur, für die der Volksmund die Bezeichnung Hüne kennt: 1,94 m groß und 110 kg schwer. Das meiste davon ist Muskelmasse. Und die hat ihm der Herrgott tatsächlich ein wenig in die Wiege gelegt.
„Mein Vater war Schwinger, Onkel Samuel Sempach sogar Schweizer Kranzschwinger. So wuchs ich langsam rein. Zuerst ging ich zwar noch ein halbes Jahr Fußball spielen, fühlte mich aber nie so richtig wohl. Schwingen faszinierte mich schon als Kind“, sagt Matthias Sempach.
100. Bus-Blickpunkt-Leserreise führte auch aufs Schwingfest
Schwingen, das ist eine spezifische Form des Ringens. Sie wird in der Schweiz gepflegt. Und alle drei Jahre beim Schwing- und Älplerfest (Bewohner der Alpen) krönen die Schwinger ihren König. An diesem Tag dreht sich in der Schweiz fast alles um den neuen Monarchen, den König der Schwinger. Die Fernsehkanäle übertragen schon vor dem Frühstück und Zehntausende pilgern zur Festwiese des Schwingfests. 2013 waren auch die Teilnehmer der 100. Bus-Blickpunkt-Leserreise in die Schweiz bei diesem Schwing- und Älplerfest dabei und hatten Gelegenheit, mitzuerleben, wie sich Matthias Sempach von Sieg zu Sieg hin zum Lorbeerkranz für den Sieger schwang.
52.000 Zuschauer in der Arena in Burgdorf
Burgdorf im schönen Emmental, zwischen Bern und Thun gelegen, war Austragungsort der Wettkämpfe 2013. Die Zuschauertraversen der Arena, ein aus Aluminiumstangen zusammengesetztes riesiges Gerüstoval, waren bis auf den letzten Platz gefüllt: 52.000 Besucher verfolgten die Show der Sägemehl-Gladiatoren. Die Nachfrage nach Eintrittskarten ist riesig. Man sagt, es sei einfacher, Karten für Anna Netrebko in der Züricher Oper zu bekommen als Plätze in diesem Oval. Doch das Schwing- und Älplerfest ist mehr als die Arena. Im Umfeld des Kampfplatzes finden auch Wettkämpfe im Steinstoßen und Hornussen statt. Es gibt jede Menge Bierund Festzelte, Musik und Unterhaltung und natürlich kann man die Sägemehlringer auch per Public Viewing bewundern. Auch ohne Eintrittskarte kann man dabei sein. Bier gibt es übrigens aus Flaschen. Alles bleibt friedlich. Es kursiert der Spruch, beim Schwingerfest 2010 wären nur zwei Polizisten im Einsatz gewesen – als Hüter des Fundbüros.
Ein Fitnesstrainer gehört heute dazu
Matthias Sempach, der neue Schwingerkönig, hat 2003 mit 17 Jahren seinen ersten Titel geholt. Inzwischen schloss er seine Metzgerlehre ab und arbeitet in seinem Beruf. Sportlich wird er von einem Fitnesstrainer begleitet. Das ist ein neuer Trend. Denn lange Zeit galt es als anstößig, solchen modernen Firlefanz mitzumachen. Matthias Sempach trainiert so 18 Stunden pro Woche und gilt als einer der besten Techniker seines Metiers. Brienzer, Kurz- und Übersprung , so die Namen einiger Schwünge, sind seine Spezialitäten. Neben diesen putzigen Namen hat das Schwingerritual noch so einige nette Eigenheiten. So beginnt der Wettkampftag mit dem Kommando des Stadionsprechers: „Männer, in die Hosen!“ Was nicht bedeutet, dass die muskulösen Herren vorher im Adamskostüm dastanden. Gemeint ist mit diesem Kommando das Anlegen der kurzen, derben Schwingerhose. Sie wird über der Alltagskleidung (Hemd, Hosenträger, Hose) getragen und ist das Zugriffs- und Zerrobjekt des Gegners. Die Kampfdauer liegt zwischen 4 und 16 Minuten. Das Duell ist entschieden, wenn zwei Drittel des Rückens des Gegners oder beide Schulterblätter das Sägemehl berühren. Dann folgt eine wahrhaft ritterliche Geste. Der Sieger klopft das Sägemehl vom Rücken seines Gegners ab und mit einem kameradschaftlichen Handschlag verabschieden sich die Kampfhähne.
Pfiffe und Regenschirme sind verpönt
Auch die Zuschauer haben sich an Regeln zu halten, Pfiffe aus dem Publikum sind ebenso verpönt wie allzu schicke Kleidung oder Regenschirme. Letztere würden im Einsatzfalle auf den Traversen die Sicht versperren. Als Preis erhält der Sieger nicht einen schnöden Barscheck, sondern etwas Lebendiges, einen ausgewachsen Stier. Auch die anderen Teilnehmer des Turniers gingen in Burgdorf nicht leer aus. Sie durften sich vom Gabentisch mit Elektrogeräten, Gemälden, Möbeln, Gefriertruhen oder Mountainbikes bedienen. In einer Festhalle konnte man schon während des Wettkampfes diese Auslagen bewundern. Matthias Sempach müsste übrigens für seinen Stier keinen neuen Stall bauen. Das Tier, das das Preisgeld symbolisiert, wird in der Regel wieder vom eigentlichen Besitzer zurückgekauft. Aber so ein Stier macht halt mehr her als ein Rosenstrauß, ein neues iPad oder ein kleiner Scheck über eine große Kreuzfahrt. Doch vielleicht, sollte es Matthias Sempach gelingen in drei Jahren seinen Titel zu verteidigen, nimmt er dann doch den Stier mit nach Hause. Für einen eigenen Landwirtschaftsbetrieb, den er aufbauen will. Für sich und seine Familie, die er einmal gründen möchte.