Am darauffolgenden Tag verbreitete sich ihr Brief wie ein Lauffeuer innerhalb der Reisebusbranche. Damit traf sie offenkundig bei den Bustouristikern den richtigen Nerv. Sie sprach mit ihrem fundierten Hilferuf den Busunternehmern aus der Seele. Der Appell wurde sogar von den Verbänden RDA, BDO und GBK bundesweit in Umlauf gebracht. Viele Busunternehmer schlossen sich diesem Schreiben an, griffen es auf und schickten es an die politischen Funktionsfunktionsträger ihrer Region sowie die Landtags-, Bundestags- und EU-Parlamentarier ihrer Wahlkreise. Die Botschaft war glasklar: „Wir brauchen Soforthilfen!“

Mit dem Inhalt des Schreibens skizzierte sie die dramatische Situation, in der sich die Branche befand und immer noch befindet. Beinahe von einem Tag auf den anderen war der Versmolder Busunternehmerin und der gesamten Reisebusbranche die komplette Geschäftsgrundlage entzogen worden. Am 17. März hat die Bundesregierung Busreisen verboten und eine weltweite Reisewarnung ausgesprochen. Diese Nachricht versetzte die Branche zunächst in eine Schockstarre. So auch Bettina Sieckendiek. Die 56-Jährige ist Gesellschafterin des ostwestfälischen Reiseunternehmens Reisebüro & Omnibusverkehr Fritz Sieckendiek. Das Unternehmen beschäftigt 90 Mitarbeiter und unterhält einen modernen Fahrzeugpark von 45 Bussen. Wie viele andere Busunternehmen auch, investierte Sieckendiek in den letzten Jahren mehrere Millionen Euro in eine moderne, klimafreundliche Busflotte, die aber seit dem 17. März dazu verdammt wurde, ihr Dasein auf dem Betriebshof zu fristen.

Bettina Sieckendiek ist Touristikerin mit Leib und Seele. Wenn sie über die Reisebranche und den Corona-bedingten Stillstand spricht, blutet ihr das Herz. Sie stieg 1985 in das Familienunternehmen ein, das ihre Eltern 1965 gegründet hatten. Das war eine bewusste Entscheidung. Die touristische Arbeit bereitete ihr viel Freude. Bevor sie sich auf die Bustouristik spezialisierte, durchlief sie verschiedene Posten im Betrieb. Sie arbeitete im Reisebüro, begleitete viele Flug- und Fernreisen, und unternahm mit Gruppen zahlreiche Kreuzfahrten. Mit Kreuzfahrtschiffen kennt sie sich seither bestens aus. Hochsee- und Flusskreuzfahrten sind ein großer Bereich bei Sieckendiek. „Der jetzt Corona-bedingt wegfällt“, bedauert die Unternehmerin.
Ihren Humor verliert sie aber trotz allem nicht. Sie hat stets ein Lächeln im Gesicht und blickt bisher zuversichtlich in die Zukunft ihres Unternehmens. „Was aber in einem halben Jahr oder im nächsten Jahr um diese Zeit sein wird, das kann keiner vorhersagen“, erklärt sie. „Das ist wie ein Blick in die Glaskugel.“ Man stelle aber fest, dass die Gäste wieder Lust haben, zu reisen. Dem will das Unternehmen zunächst mit Tagestouren ab Mitte Juni begegnen. Angesichts der zurzeit (08. Juni) vorherrschenden Situation in den deutschen Bundesländern, sprich der Flickenteppich an unterschiedlichen Regeln für Busreisen, entwickeln sich selbst Tagestouren zu einer Herkulesaufgabe. „Jetzt brauchen wir dringend einheitliche Regelungen, am liebsten in ganz Europa“, sagt Sieckendiek. Nichtsdestotrotz, die Planung neuer Reiseprogramme lässt sie sich nicht nehmen. Für dieses Jahr stehen z. B. Radtouren auf dem Programm. Eingekauft habe man einiges auch an den Küsten Deutschlands. Ein Merkblatt zu Hygiene- und Infektionsschutz hat sie auch schon erarbeitet, „damit die Gäste auch gut informiert sind vor der Reise“, sagt sie. „Dann kann’s losgehen.“

Bettina Sieckendiek ist heute als Gesellschafterin für die Bustouristik, die Entwicklung der Reisen, den Katalog und die Betreuung von Gruppen zuständig. Ihre Mutter Renate Sieckendiek betreut die zwei Reisebüros, die zum Unternehmen gehören. Renate Sieckendiek hat 1999, nachdem ihr Mann gestorben ist, die Geschäftsführung gemeinsam mit Ingo Kehl und Stefan Rinker (Mann ihrer zweiten Tochter) übernommen. Stefan Rinker betreibt gemeinsam mit Birgit Sieckendiek-Rinker die firmeneigene Werkstatt – eine MAN / Neoplan-Vetragswerkstatt, in der auch Fremdfahrzeuge und Lkw repariert werden. Ingo Kehl kümmert sich um die gesamte Dispo und den Linienbereich.

„Wir hatten einen unglaublich guten Start. Das Reisegeschäft vor Corona lief sehr gut“, berichtet Bettina Sieckendiek, „das war das beste Jahr, das wir je hatten“, sagt sie wehmütig. „Wir hatten die stärksten Buchungszahlen.“ Es gab viel zu tun, dadurch sind viele Überstunden zusammengekommen, die dann, bevor Kurzarbeit angemeldet werden konnte, erst mal abgefeiert werden mussten. „Wir haben aufgrund unserer Unternehmensgröße keine Soforthilfe bekommen und haben alles bisher aus eigener Kraft gestemmt“, beanstandet sie. Der Linienverkehr läuft zwar wieder, die Taktung ist aber nicht so eng wie sonst. Im Reisebüro wird momentan alles rückabgewickelt, bedauert die Unternehmerin.

Die Bustouristik sei noch nie zuvor in so einer Not gewesen wie zu Corona-Zeiten. „An jedem Arbeitsplatz in der Bustouristik hängen mindestens fünf weitere Arbeitsplätze oder werden dadurch generiert“, verdeutlicht die Reiseunternehmerin den Stellenwert dieser Branche. Die Wertschöpfungskette sei lang und vielfältig: Dazu gehören etwa Bushersteller, Zulieferer, Werkstätten, Tankstellen, die gesamte Verwaltung, das Messewesen, der Handel – man kauft vor oder während einer Reise z.B. einen Reiseführer, eine Regenjacke, ein Kleid für die Oper und unterstützt somit den Textilbereich, der regional angesiedelt ist. Hinzu komme die Hotellerie, Gaststätten, Kulturbetriebe, Soloselbständige (wie Reiseleiter), Eisdielen und und und… „Wenn man sich das alles erst vor Augen führt, dann wird das Ausmaß und die Bedeutung des Tourismus erst klar“, resümiert Sieckendiek. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung des Tourismus für die Länder werde oft verkannt. Man dürfe außerdem nicht vergessen, „wir holen die Menschen aus der Einsamkeit; Stichwort Teilhabe für Senioren“, veranschaulicht Sieckendiek einen weiteren signifikanten Aspekt der Bustouristik.

Was ist eigentlich aus dem eingangs erwähnten Brief geworden, gab es Rückmeldungen seitens der Politik? Mittlerweile hat sie fünf solcher Briefe verfasst. Sie hat regen Kontakt zu der Politik. Ralph Brinkhaus hat sich auf ihren Brief hin telefonisch bei ihr gemeldet. Der Brief war auch Türöffner für diverse Medien, die dadurch auf sie aufmerksam wurden. So berichtete die Sondersendung „ARD extra“ über das Reiseunternehmen Sieckendiek, Bettina Sieckendiek war Gast bei „hart aber fair“ und wurde in der Sendung Morgenmagazin (Moma) zur Lage der Bustouristik interviewt.

Sie ist fest entschlossen, auch in Zukunft die Branche zu unterstützen und den Austausch mit der Politik zu pflegen. „Ich werde auch zusammen mit anderen Kollegen alles daransetzen, um unsere Werte und unseren Wert für die Arbeit, die wir tun, besser darstellen zu können.“ Ferner hat sie sich auf die Fahne geschrieben, das Image der Branche zu stärken, um die Relevanz, „die wir gesamtgesellschaftlich haben, stärker darstellen zu können“, unterstreicht Sieckendiek und ergänzt: „Eine Busreise sollte etwas Besonderes, etwas Schönes sein. Die Qualität muss in den Fokus gerückt werden. Wir sollten die Bedeutung dessen, was wir tun, stärken.“

Askin Bulut