Südlich von Zwickau, unweit von der Autobahn nach Hof, liegt die Stadt Reichenbach. Eingebettet in die hügelige Bergwelt des Vogtlands. Traditionell eine Industrieregion. Betriebe des Maschinenbaus und der Textilindustrie sind hier zu Hause. Fährt man in Richtung Stadtzentrum auf der Rosa-Luxemburg Straße entlang, erblickt man rechter Hand einen großen Abstellplatz für Linienbusse. Ein Schild verweist auf den Eigentümer des Anwesens: Reichenbacher Verkehrsbetrieb Gerlach GmbH. Hier, im zweiten Stock des Hauses, ist das Büro von Siegfried Gerlach (65). Er ist seit dem 1. Januar 1994 Geschäftsführer der Gerlach GmbH. An jenem Tag hat er den Reichenbacher Verkehrsbetrieb gekauft und ihn in der Folgezeit in ein marktwirtschaftliches Unternehmen verwandelt. Gelebte Privatisierung.
Vorausgegangen war diesem Kauf die Entscheidung der Treuhandgesellschaft in Berlin, die regionalen Verkehrsbetriebe an die Kreise und Städte zu übergeben. Auch Reichenbach bekam, im Verbund mit Energieträgern wie Gas und Strom, den Verkehrsbetrieb zugesprochen. Doch da der Betrieb im Wesentlichen von der Quersubventionierung über Wasser gehalten wurde, war die Liebe zu diesem Geschenk von der Treuhand nicht allzu groß. Hinter mehr Schlosser, KFZ-Meister, Diplom-Ingenieur oder weniger vorgehaltener Hand wurde vom Verkauf des Verkehrsbetriebes gesprochen. Ein erfahrener Bus-betreiber aus Niedersachsen hatte bereits seine Fühler ausgestreckt. Siegfried Gerlach war zu diesem Zeitpunkt angestellter Geschäftsführer des Reichenbacher Verkehrsbetriebs und hatte als solcher schon in den ersten Jahren nach der Wende 1989 so manchen Sturm im Nahverkehr erlebt. Der Nahverkehr war in der DDR das wichtigste Fortbewegungsmittel. Pkws gab es in überschaubarer Stückzahl. Von der Wartezeit auf ein Neufahrzeug ganz zu schweigen. Die Industriebetriebe im Vogtland holten ihre Arbeiter mit Werks-bussen ab. Doch viele Betriebe gingen Pleite oder drosselten die Produktion. Werksverkehre wurden überflüssig. Busfahrer hatten keine Arbeit mehr. Siegfried Gerlach kannte das Innenleben des öffentlichen Personennahverkehrs in der DDR und in den Jahren nach der Wende so genau wie den Inhalt seiner Westentasche. Jeder Stein und jede Schraube auf dem Reichenbacher Betriebshof waren ihm vertraut. Er hatte Landmaschinen- und Traktorenschlosser gelernt und fing am 1. September 1968 als Schlosser im Verkehrsbetrieb Reichenbach in der Rosa-Luxemburg-Straße an. In einem Abendstudium qualifizierte er sich zum Kfz-Meister. Wenig später, nach einem fünfjährigen Fernstudium, erlangte er den Grad eines Diplomingenieurs für Verkehrswesen. Sein Ziel war es, Einsatzleiter in einem Verkehrsbetrieb zu werden. Das gelang ihm in den achtziger Jahren in einem Zweigbetrieb des Karl-Marx- Städter Verkehrskombinats. Mit seiner Ehefrau Gerdi und Tochter Diana lebte er noch immer in einem der vielen „Grüns“, die es im Vogtland gibt: in Lauschgrün an der Göltzschtalbrücke. Die Wende 1989 schüttelte das Leben der drei Gerlachs kräftig durcheinander. Aus der medizinisch-technischen Assistentin Gerdi Gerlach wurde die Kosmetikerin gleichen namens. Tochter Diana hatte gerade das Abitur abgelegt, wollte studieren, entschied sich jedoch für eine Lehre zur Industriekauffrau in Selb im Fichtelgebirge. Siegfried Gerlach bewegte in dieser Zeit vor allem eine Frage: Was wird aus mir, wenn der Reichenbacher Verkehrsbetrieb verkauft wird und in fremde Hände geht? Ende 1993 wurde er recht überraschend zu einer Sitzung des Bürgermeisters eingeladen. Tagungsordnungspunkt 1: Verkauf des Reichenbacher Verkehrsbetriebs. Als allen im Raum klar war, dass verkauft wird, sprach der Vertreter der Deutschen Bank ein Machtwort: „Wenn verkauft wird, dann soll Siegfried Gerlach die Chance erhalten, diesen Betrieb zu kaufen und ein Konzept für die Zukunft des Verkehrsbetriebes vorlegen. Er kennt den Betrieb wie kein Zweiter.“ Ruhe im Saal. Alle Augen waren auf Siegfried Gerlach gerichtet: „Wie soll ich das bezahlen? Mir fehlt das Geld.“ Doch Widerstand schien zwecklos. Denn die Entscheider der Kreditvergabe waren von seiner Sach-kenntnis, gepaart mit vogtländischer Bescheidenheit und Zuverlässigkeit, längst Gerdi Gerlach übernahm das Reisegeschäft überzeugt. Nachdem sein Konzept auch die Zustimmung der Fraktionen im Stadtparlament gefunden hatte, bekam Siegfried Ger-lach den Zuschlag und wurde Eigentümer und Geschäftsführer der Reichenbacher Verkehrsbetriebe – jetzt mit dem Zusatz: Gerlach GmbH. „Vor diesen Entscheidungen hatte ich erstmal die Familie zusammengetrommelt“, erinnert sich Siegfried Gerlach, „so etwas kann man nur mit der Familie stemmen. Ich wollte, dass meine Frau und meine Tochter ins Unternehmen zurückkehren.“ Später kam dann noch ein Schwiegersohn hinzu, der einen idealen Beruf hatte: Kfz-Meister. Die Gerlachs gingen ans Werk. Gerdi übernahm das Reisegeschäft. Ging 1994 mit dem Bus Blickpunkt auf ihre erste Leserreise nach Sizilien, lernte Hotels und Anbieter kennen. Die Tochter sorgte sich um die Buchhaltung. Eine Fahrschule wurde etabliert, ein Abschleppdienst eingerichtet. Siegfried Gerlach: „Viele Standbeine sichern ein gutes Stehvermögen.“ Und dieses Stehvermögen hat Siegfried Gerlach mit seinem Busbetrieb – bei allen up´s and down´s – in den letzten 20 Jahren seit der Privatisierung am 1. Januar 1994 immer wieder bewiesen. 70 Mitarbeiter sind heute im Unternehmen tätig. Zum Fuhrpark gehören 44 Linienbusse und acht Reisebusse der Marken Mercedes- Benz und MAN. Seit einem Monat steht auch ein Euro VI Citaro von Mercedes-Benz auf dem Hof. Es ist der erste Euro VI Citaro im Osten Deutschlands.